Denkanstoß des Tages – #WirSindAlleLinX oder doch nicht?

Bilder, die von #WirSindAlleLinX am 18.09.2021 übrigbleiben: Farbbeutel am Leipziger Polizeipräsidium.
Bilder, die von #WirSindAlleLinX am 18.09.2021 übrigbleiben: Farbbeutel am Leipziger Polizeipräsidium.

Ich bin links oder linX. Ich werfe keine Farbbeutel, Steine und Flaschen. Beschimpfe keine Polizist:innen. Verprügle keine Nazis. Aber, ich gehe auf die Straße zur Demo.

Ja, ich habe mich eingereiht in die Demo #WirSindAlleLinX am 18. Oktober 2021.1 Und aus einem guten Grund: Ich wehre mich dagegen, dass man die antifaschistische Bewegung kriminalisiert. Ich protestiere dagegen, dass man der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten für 2019 die Gemeinnützigkeit aberkannt hat.2 Ich empfinde es als abscheulich, dass man in einer Zeit, in der mir die Geschehnisse vom Mord an Walter Lübke am 2. Juni 20193, vom Überfall auf die Synagoge in Halle (an der Saale) am 9. Oktober 20194 oder vom Anschlag in Hanau im am 19. Februar 20205 noch im Gedächtnis sind. Aber, ich erinnere mich auch an den Angriff rechter Hooligans auf Geschäfte, Vereinsräume und Kneipen in der Leipziger Wolfgang-Heinze-Straße am 11. Januar 2016.6, 7 Es war damals ein Anschlag auf das vermeintlich ausschließlich linke Stadtviertel Connewitz. Ich empfinde es als skandalös, dass es bis heute keine vollständige politische Aufklärung des Attentats eines als rechts eingestuften Terroristen auf das Oktoberfest gibt.8 Es ist unfassbar, wenn eine Beate Zschäpe nach ihrer Verurteilung wegen Mittäterschaft aus dem Gefängnis in Chemnitz mutmaßlich weiter Kontakt zur Neonaziszene hat. Ja, dagegen wehre ich mich.

Und ich verwahre mich, dass Menschen, die Gewalt ausüben und in dieser und anderen Demonstrationen mitgelaufen sind, als Links oder LinX bezeichnet werden. Eindeutig begehen diese Menschen Straftaten. Denn, wer Flaschen, Farbbeutel, Böller, Steine gegen Gebäude oder Fahrzeuge – egal ob behördliche oder private – wirft, begeht eine Straftat. Diese Aktionen, die ich auch am Samstag gesehen habe, wurden nicht aufgrund von Selbstverteidigung zum Schutz des eigenen Lebens ausgeführt, sondern aus einem falsch verstandenen Hass gegen die polizeilichen Einsatzkräfte und das Leipziger Polizeipräsidium. Bis dahin habe ich Bengalos und vereinzelte Böller noch als „Ritual“ des Schwarzen Blocks gehalten. Oder wie die SPD-Stadträtin Irena Rudolph-Kokot schreibt: „…paar Rauchtöpfe sind echt nur Folklore.“9 Es nicht gut gefunden, weil es die Friedlichkeit der Demonstration störte. Aber mit dem Vorbeiziehen am Polizeipräsidium und den Angriffen auf die Beamten bei der LVZ war für mich die Demo beendet. Das, was die Wenigen dort zur Schau stellten, hatte nichts mit #WirSindAlleLinX zu tun. Morddrohungen gegen den Soko-Linx-Chef gehen gar nicht. Und alles passte so schön in das kleinbürgerliche, konservative Bild von Bürger:innen und den Medien10, 11 über die vermeintlich linke Szene von Leipzig. In der Auswertung der Demonstration distanzierte sich Juliane Nagel, Landtagsabgeordnete der Fraktion Die Linke im Sächsischen Landtag, auf Twitter: „Was nicht geht sind krude Drohungen gegen Personen.“12 Und Jürgen Kasek, Stadtrat in Leipzig und Rechtsanwalt, twitterte folgendes Fazit: „Ist halt auch dumm am Ende einer kraftvollen Demo die Eskalation zu suchen und damit Bilder zu liefern die kontraproduktiv sind.“13 Auch Rudolph-Kokot geht in ihrer Einschätzung mit den beiden konform und veröffentlichte auf Twitter ein Video von brennenden Barrikaden: „Wir halten fest- fast 5000 Antifaschist:innen demonstrieren kraftvoll und friedlich (paar Rauchtöpfe sind echt nur Folklore) und setzen ein klares Statement. Danach drehen ein paar Unausgelastete am Rad und produzieren die Bilder, die Konservative haben wollen.“9 Den drei Stimmen ist nichts mehr hinzuzufügen. Ein klarer Standpunkt von drei Vertreter:innen der Zivilgesellschaft und gleichzeitig „Hassfiguren“ für das städtische Kleinbürgertum, das als wabernde stumme Masse vor den ständigen Provokationen von Rechts die Augen verschließt und brav am 26. Oktober wieder seine Stimme dem Ordnung schaffenden konservativen Lager geben wird.

Ich habe die Demo verlassen, als es kippte. Aber, ich werde auch bei der nächsten Demo gegen Rechts und gegen die Kriminalisierung des Antifaschismus dabei sein. Denn jede friedliche Stimme zählt. Diejenigen, die Straftaten begehen möchten und sich deshalb auf linke Demos begeben, sollen aber wissen, dass es nicht nur heißt „Kein Millimeter nach Rechts“14, sondern auch „Kein Millimeter für Militanz“.

Hintergrund:

Am 18. September 2021 versammelten sich ca. 5.000 Menschen am Leipziger Johannesplatz, um auf einer Kundgebung und einem anschließenden Marsch durch die Stadt zum Connewitzer Kreuz gegen Faschismus und ein Ende der Kriminalisierung des Antifaschismus zu protestieren.1 Ein weiteres Ziel war die „Freiheit für Lina!“ Lina E., Studentin aus Leipzig, sitzt seit November 2020 in Untersuchungshaft und steht seit Anfang September wegen Anführung einer linksextremistischen Gruppe und Anschlägen und Aktionen in Sachsen und Thüringen15 in Dresden vor Gericht. Ein sehr widersprüchliches Verfahren, dass kurz vor den Bundestagswahlen als politischer Prozess gewertet werden kann. Zumal es in den ersten Prozesstagen um die gewalttätigen Übergriffe auf ein bekanntes Mitglied der Neonaziszene, der übrigens nachweislich an dem Überfall am 11. Januar 2016 auf das linke Szeneviertel Connewitz beteiligt war, ging. Hier ist von Lina E. mutmaßlich eine Straftat begangen worden, die als diese behandelt werden muss. Es gibt in diesem Land keine Selbstjustiz, wenn Straftaten, wie die vom 11. Januar 2021 und andere rechte Gewalttaten ungenügend aufgearbeitet wurden und werden. Es bleibt immer wieder nur die Chance, die politischen Verhältnisse, die gegenwärtig auf dem rechten Auge blind zu sein scheint, auch politisch zu verändern. Und da bin ich wieder Links oder LinX, wenn ich am 26. September 2021 meine Stimme für den neuen Bundestag abgebe.

Quellen:

  1. https://www.wirsindallelinx.com/
  2. https://taz.de/VVN-BdA-wieder-voll-gemeinnuetzig/!5768978/
  3. https://www.hessenschau.de/gesellschaft/der-mord-an-walter-luebcke—eine-chronik,mordfall-luebcke-chronik-100.html
  4. https://www.zdf.de/nachrichten/heute/halle-schuesse-vor-synagoge-100.html
  5. https://www.tagesschau.de/inland/hanau-morde-zusammenfassung-101.html
  6. http://www.connewitz-leipzig.de/leipzig-connewitz-kiez/neonazis-greifen-connewitz-an-und-randalieren-in-der-wolfgang-heinze-strasse/20160112
  7. https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cberfall_auf_Connewitz
  8. https://www.deutschlandfunkkultur.de/oktoberfestattentat-vor-40-jahren-die-aufklaerung-der.976.de.html?dram:article_id=484611#:~:text=Oktoberfestattentat%20vor%2040%20Jahren%20-%20Die%20Aufkl%C3%A4rung%20der,eine%20Bombe.%20Zw%C3%B6lf%20Menschen%20und%20der%20Attent%C3%A4ter%20sterben.
  9. https://twitter.com/IrenaKOKOT/status/1439286125135269891
  10. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2021-09/leipzig-demonstration-linx-linke-szene-connewitz?wt_zmc=sm.int.zonaudev.twitter.ref.zeitde.redpost.link.x&utm_medium=sm&utm_source=twitter_zonaudev_int&utm_campaign=ref&utm_content=zeitde_redpost_link_x
  11. https://www.deutschlandfunk.de/nach-ausschreitungen-in-leipzig-polizeipraesident.1939.de.html?drn:news_id=1303143
  12. Jule Nagel auf Twitter: „Festzuhalten bleibt: Es waren 5000 Antifaschist*innen gegen Rechtsruck, Neonazis, rechte Netzwerke in Behörden auf der Straße. Wenn Pyrotechnik nun die Gemüter erhitzt, ist das schief. Was nicht geht sind krude Drohungen gegen Personen. #le1809 #wirsindallelinX“ / Twitter
  13. https://twitter.com/JKasek/status/1439258913006919680
  14. http://www.omasgegenrechts.de/kein-millimeter-nach-rechts-virale-aktion/
  15. https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen/leipzig/leipzig-leipzig-land/linksextremismus-lina-prozessbeginn-september-100.html