Europa-Parlament: Zweierlei Maß gegen die Demokratie?

Juan Guaidó bei einer Ansprache vor Anhängern in Caracas. © picture alliance / Xinhua News A
Juan Guaidó bei einer Ansprache vor Anhängern in Caracas. © picture alliance / Xinhua News A

Eiligst hat das Europäische Parlament am Donnerstag Juan Guaidó als rechtmäßigen Interimspräsidenten von Venezuela anerkannt. Die oberste „Volksvertretung“ Europas folgt damit im blinden Gehorsam dem Beispiel einiger anderer Staaten wie – natürlich – den USA oder Australien oder Israel … (https://www.tagesschau.de/ausland/europaparlament-guaido-101.html)

Vorausgegangen war die Selbsternennung Guaidós zum legitimen Präsidenten der Republik Venezuela: „Heute am 23. Januar 2019 in meiner Funktion als Präsident der Nationalversammlung schwöre ich, als Präsident Venezuelas die Zuständigkeit und Verantwortung der Exekutivgewalt zu übernehmen.“ (Quelle: https://www.tagesschau.de/ausland/guaido-portraet-101.html) Zehntausende waren Anfang Januar in vielen Städten des lateinamerikanischen Landes auf die Straßen gegangen. Mehr Demokratie, mehr Rechtstaatlichkeit, freie Wahlen, Schluss mit Korruption und Vetternwirtschaft, mehr Geld zum Leben, soziale Gerechtigkeit. Berechtigte Forderungen, die wir hier im sicheren Westen gern unterstützen. Auch die Seite der Industriellen, die einen Großteil der oppositionellen Kräfte ausmachen, hat berechtigte Forderungen nach unternehmerischen Freiheiten gepaart mit der scheinheiligen Beteuerung, die Interessen des Volkes zu vertreten.

Nach dem Tod des 62. Präsidenten Venezuelas, Hugo Chávez, der mit seinem sozialistischen Weg Hoffnungen nicht nur im eigenen Land, sondern in ganz Lateinamerika weckte, hat es sein Nachfolger Nicolás Maduro nicht vermocht, diesen Weg fortzuführen und weiter zu demokratisieren. Die fortwährend niedrige Ölpreisstrategie der westlichen Länder zusammen mit den Ölförderstaaten in der Golfregion hat das wirtschaftlich einseitig auf die Erdölförderung orientierte Land in den Ruin getrieben. Soziale Gerechtigkeit ist nun einmal kein Projekt, dass ausschließlich auf Bodenschätzen bauen kann. Zu beobachten waren, wie die wirtschaftlichen Spannungen immer mehr von der erst kleinen, aber stets wachsenden Opposition ausgenutzt wurden, um gegen die Chávez-Republik Stimmung zu machen. Und wenn der Magen leer ist, Medikamente nicht verfügbar sind, kein Wohnraum zur Verfügung steht, die Arbeitslosen von 2008 mit 7,35 Prozent auf 34,32 Prozent innerhalb von zehn Jahren anwachsen konnte (Quelle: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/321184/umfrage/arbeitslosenquote-in-venezuela/), dann ist der Nährboden für Frust, Wut, Enttäuschung bei einem Großteil der Bevölkerung gelegt. Hinzu kamen, wenn man den Medien glauben darf, Repressionen gegen politische Gegner auch aus den eigenen Reihen der Chávisten. Sie fühlten sich betrogen: „Die Revolution frisst ihre Kinder“ – die Parallelen zur französischen Revolution von 1789, zu Kuba, zur 68’er-Bewegung in der BRD, zur DDR, zur Wende, zur Sowjetunion sind zu erkennen. Gescheitert, weil man Volkes Wille, die Wurzeln zu seiner Basis ignorierte und nicht in der Lage war und ist, die Menschen aufzuklären, sie in die Prozesse einzubeziehen, sie am Wandel teilhaben zu lassen, auch einmal unbequeme Ideen zuzulassen („Zu unserer Politik gibt es keine Alternative.“ Ein Satz, der sich wie ein roter Faden durch die Machtstrukturen von gestern und heute zieht.).

Nach fünf Jahren Machtkampf kommt es zum Showdown zwischen oppositionell dominiertem Parlament und Staatspräsident Maduro. Nach zig Toten bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Staatsmacht und Opposition, einem Flüchtlingstrack in Richtung Kolumbien, der die Millionengrenze überschritten hat, legen sich die Hoffnungen auf einen sozialistisch geprägten Weg in Venezuela. Wieder einmal wird die Idee von einer gerechteren Gesellschaft durch die handelnden Personen selbst diskreditiert und zu Grabe getragen.

Frankreich: Gleiches Problem?

Und wie steht es im Kernland von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit (französisch Liberté, Égalité, Fraternité)? In Frankreich formierte sich im Oktober 2018 die Protestbewegung der „Gelbwesten“. Ausschlaggebend war eine Preiserhöhung bei den Fahrzeugkraftstoffen, die ab Januar 2019 gelten sollten. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat in seinem wirtschaftsliberalen Reformwahn das Volk, das ihn voller Hoffnung auf einen demokratischen Wandel gewählt hatte, aus den Augen verloren. Zehntausende waren Anfang seit Oktober 2018 in vielen Städten des westeuropäischen Landes auf die Straßen gegangen. Die „Gelbwesten“ organisierten Straßensperren und machten so ihren Unmut nicht nur über die Preisspirale bei den Kraftstoffen Luft. Auch hier blieb es nicht friedlich. Barrikaden brannten, Angriffe auf Polizeibeamte, Plünderungen in Großstädten. Akte der Gewalt, die mit keiner Beschreibung von ausweglosen Situationen zu rechtfertigen ist. Mittlerweile wurden bei den Demonstrationen Rufe nach dem Rücktritt des Präsidenten laut. Und wenn diese Gewalt ab diesen Samstag von der Polizei mit Gummigeschossen beantwortet werden darf (http://business-panorama.de/news.php?newsid=550859), ist eine Eskalation der Ausschreitungen zu erwarten.

Was jetzt aber ist, wenn an diesem Samstag eine der Gallionsfiguren der „Gelbwesten-Bewegung“, der 33 Jahre alte LKW-Fahrer Eric Drouet oder der 45-jährige Immobilienmakler Fabrice Schlegel oder die Grand Dame des Protestes Jacline Mouraud (51 Jahre) sich an diesem Samstag oder einem der folgenden zum Staatspräsidenten/in der fünften Republik ausrufen?

Und dann kommen wir zum Ausgangspunkt meiner Betrachtung zurück: Wird sich dann das Europäische Parlament auch hinter den Interimspräsidenten/in Frankreichs stellen, weil das Volk zu Zehntausenden mit den Füßen gegen ein System, das sich über das Interesse seines eigenen Volkes gestellt hat, auf der Straße abgestimmt hat.

Der Deutsche im Dornröschenschlaf

Und was passiert, wenn die Deutschen aus ihrem Dornröschenschlaf erwachen und sich gegen Lobbyismus und Vetternwirtschaft des Staates (siehe Beraterverträge in Bundesministerien, bspw. http://taz.de/!5554416/) oder die steigenden Gewinne der Unternehmen bei gleichzeitigen Anstieg von Armut (bspw. https://www.zdf.de/nachrichten/heute/steigende-zahlen-in-deutschland-millionen-kinder-von-armut-bedroht-100.html) oder steigende Mieten und boomender Immobilienmarkt (https://www.stern.de/wirtschaft/news/armut-in-deutschland–steigende-mieten-sorgen-fuer-andrang-bei-tafeln-8483268.html) oder oder oder …

Das Dilemma, vor dem die „Volksvertreter“ in Brüssel stehen, ist, dass sie einen vernebelten Blick auf die Ereignisse in der Welt haben. Selbst mit Nebelscheinwerfern, also genügend Recherchemöglichkeiten im Internet oder verschieden farbige Berichte von Augenzeugen, schaffen sie es nicht, über den Tellerrand der gesellschaftspolitischen, sprich sozialen und wirtschaftlichen, Zusammenhängen zu schauen. In blindem Gehorsam folgen sie der Propagandamaschine von CIA und Weltbank, um die Unruhe in einem zerrütteten Land, eben Venezuela, weiter zu schüren, anstatt sich mit Maduro und Guaidó an einen Tisch zu setzen. Auch wenn man nicht absehen kann, welches Gesellschaftsmodell dabei geformt wird, wenn allein der West mitmischt und sein scheindemokratisches System den Venezolanern überstülpen möchte. Doch sind Verhandlungen allemal besser, als Straßenschlachten, Barrikaden, brennende Autos und erneut Todesopfer.

Die überstolzen Westeuropäer sollten also nicht mit zweierlei Maß messen, wenn sich Volkes Wille auf der Straße Gehör verschafft. Und, wir sollten zur Europawahl #europawahl2019 gehen und ganz genau hinschauen, wer für ein demokratisches Europa steht, wer sich Gerechtigkeit und Frieden auf die Fahnen geschrieben hat, wer gegen Lobbyismus und Vetternwirtschaft ist und wer für ein lebenswerte Umwelt eintritt … Da gibt es nicht viele Parteien und Bewegungen, die mir da einfallen. Aber, die herrschende politische Kaste in ganz Europa zählt nicht dazu. Schon allein, weil sie es ist, die im Eigeninteresse immer mit zweierlei Maß misst.

Hier einige Parteien und Bewegungen, die aus meiner Sicht wählbar sind:

https://aufstehen.de

https://www.die-linke.de

https://diem25.org

https://www.gruene.de

https://www.piratenpartei.de

Wenn sie alle clever wären und aus ihren politischen Schützengräber hervorkriechen würden, sich zusammenschließen unter dem gemeinsamen Nenner „soziale Gerechtigkeit und Frieden in ganz Europa“, könnte Europa eine Zukunft haben.