Corona IV – Die Verlockungen der Lockerungen

Eine aktuelle Übersicht zu den Entwicklungen der Covid-19-Infektionen in Deutschland. Foto: Bundesregierung (https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/fallzahlen-coronavirus-1738210)
Eine aktuelle Übersicht zu den Entwicklungen der Covid-19-Infektionen in Deutschland. Foto: Bundesregierung (https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/fallzahlen-coronavirus-1738210)

Erst ging es nicht so richtig los. Wurde die Pandemie klein geredet und als nationales Problem der Chinesen dargestellt. Erst am 16. März 2020 preschten die politisch Verantwortlichen endlich konsequent vor. Es wurde geschlossen, was zu schließen ging. Alles auf die Gefahr hin, dass viele Menschen in ihrer Existenz, dafür aber nicht ihr Leben bedroht wurde.

Jetzt nach acht Wochen sind uns die Erinnerungen an die Militärkonvois aus Bergamo, die Kühlhalle in Madrid, die Massengräber am Rande von New York verloren gegangen. Ein Großteil der Bevölkerung hat Gitternetze vor den Augen: Einkaufswagen und Fußballtore. Einkaufspanik vor blau-gelben Möbelhäusern. Es ist sehr bedenklich, dass es immer noch zu den wichtigsten Erlebnissen gehört, shoppen zu gehen oder mit den Profifußballmillionären bei ihrer Arbeit in den leeren Gladiator-Arenen zu fiebern. Sind das unsere Grundbedürfnisse? Ja, wir vermissen es. Genauso wie die Biergärten bei sommerlichen Temperaturen, die Ostseewellen, die Konzerte im Leipziger GeyserHaus oder in Opern- und Musikhäusern, die Museen und Galerien, die Straßenmusikerinnen und -musiker … Aber, wir leben.

Ermutigt werden unsere Sehnsüchte und die Ignoranz eines gewissen Teils der Bevölkerung, der sich seit Beginn der Covid-19-Krise an keine Regeln halten wollte, durch die Mehrzahl der Landespolitiker. Unter dem fadenscheinigen Vorwand, dem Wählerwillen zu folgen und zum Teil mit Kanzlerambitionen riskieren sie mit den heutigen (06.05.2020) Lockerungen der Einschränkungen zur Eindämmung des Coronavirus unser aller Leben. „Dass das Quäntchen moderner, menschlicher Sozialismus, das da bisweilen zu spüren war, einem ultraindividualistischen Liberalismussound zu weichen scheint, den prominente Stimmen aller politischer Milieus anschlagen und der in mancher Unterhaltung am Küchen- oder Browserfenster widerhallt“, kommenierte die TAZ in ihrer Wochenendausgabe (Quelle: https://taz.de/Individualismus-in-der-Coronakrise/!5679418/).

Entmachtung. Das Ende des Zusammenhalts

Die Bundeskanzlerin trat bislang immer als besonnene mahnende Staatslenkerin auf und verbat sich noch am 20. April 2020 jegliche „Öffnungsdiskussionsorgien“. Nun wurde sie und die gesamte Bundesregierung hinterrücks von einzelnen Landesfürsten, die nicht etwa um die Gunst ihrer Wähler, sondern um die ihrer ansässigen Wirtschaft buhlen, entmachtet. „Die einen machen dies, die anderen machen das. So läuft das jetzt in der deutschen Krisenpolitik. Sachsen-Anhalt will zulassen, dass sich fünf statt zwei Leute treffen können. Bayern hebt die Ausgangsbeschränkungen auf. Niedersachsen verkündet den 11. Mai als Termin für die Öffnung von Gaststätten, Mecklenburg-Vorpommern den 9. Mai, Bayern den 18. Mai für Biergärten. Und das alles verkünden die Ministerpräsidenten kurz vor dem Gipfeltreffen mit der Bundeskanzlerin, das morgen stattfindet“, schreibt der Spiegel (Quelle: https://www.spiegel.de/politik/deutschland/coronakrise-die-entmachtung-wie-die-laenderchefs-angela-merkel-uebergehen-a-da4c5620-a227-4f54-97ca-a2c2d5c80d29). Unter dem Deckmantel des Föderalismus wurde der letzte Hort des Konsenses ausgehebelt im Vorgehen gegen eine der schlimmsten Krisen seit dem 2. Weltkrieg, so noch Bundeskanzlerin Merkel am 18. März 2020 in ihrer Regierungserklärung (Quelle: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/fernsehansprache-von-bundeskanzlerin-angela-merkel-1732134).

Mit Datum heute haben die alten Herren im Westen die Kontrolle über ihr Hoheitsgebiet wiedererlangt. Jeder kann nun im Rahmen seiner Machtbefugnisse selbst entscheiden, welche Maßnahmen zur Lockerung der vielen harten, aber notwendigen Einschränkungen getroffen werden sollten. Die einzige Einschränkung, auf die man sich geeinigt hatte: „Ab einer gewissen Relevanz muss auf eine regionale Dynamik mit hohen Neuinfektionszahlen und schnellem Anstieg der Infektionsrate sofort vor Ort mit Beschränkungen reagiert werden. Deshalb werden die Länder sicherstellen, dass in Landkreisen oder kreisfreien Städten mit kumulativ mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern innerhalb der letzten 7 Tage sofort ein konsequentes Beschränkungskonzept unter Einbeziehung der zuständigen Landesbehörden umgesetzt wird.“ (Quelle: https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/telefonschaltkonferenz-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-am-06-mai-2020-1750988)

Den Warnungen der Virologen zum Trotz

Dies alles trotz aller Warnungen von Virologen, die einerseits den Fortschritt durch die getroffenen Einschränkungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens wohlwollend beobachten, aber andererseits bei weiteren Lockerungen eine neue Ansteckungswelle befürchten. „Das ist eine Pandemie. Und bei einer Pandemie wird dieses Virus so lange Krankheiten hervorrufen, bis 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infiziert sind“, bekräftigte RKI-Präsident Lothar Wieler (Quelle: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coronavirus-zweite-welle-wendtner-100.html?fbclid=IwAR1MXFaZNJ6l_QXb5hcPWV75B2lSrolneFSkGsYcbZjKjUFTsWOGmNNqlGA). Clemens Wendtner, Chefarzt der Klinik für Infektiologie in der München Klinik Schwabing benennt den Herbst mit seinen die Virusausbreitung begünstigenden Klimafaktoren sowie die Lockerung der restriktiven Einschränkungen als Quelle für eine zweite Infektionswelle (Quelle: ebenda).

„Mit Datenstand 06.05.2020 0:00 Uhr wird die Reproduktionszahl auf R= 0,65 (95%-Prädiktionsintervall: 0,53-0,77) geschätzt“, schreibt das Robert Koch Institut in seinem aktuellen Situationsbericht. „Die Anzahl der neu übermittelten Fälle in Deutschland ist rückläufig. Die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland wird derzeit insgesamt als hoch eingeschätzt, für Risikogruppen als sehr hoch. (Quelle: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/2020-05-06-de.pdf?__blob=publicationFile).

Und trotz dieser Einschätzungen werden Fußballstadien und Einkaufstempel geöffnet. Dagegen bleiben Kindereinrichtungen, soziale Treffpunkte für Jung und Alt weiterhin geschlossen. Und dass, obwohl nachgewiesen wurde, dass Kinder und Jugendliche in punkto schwerer Erkrankungen nicht zu den Risikogruppen gehören. „Die Mehrzahl wird da sicherlich gesund herauskommen. Aber man kann davon ausgehen, dass vielleicht fünf Prozent im Zuge von Corona eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung bekommen – alles neue Patienten in einem System, das schon vorher stark überlastet war“, sagt Julian Schmitz, Professor für klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Leipzig in einem ZDF-Interview (Quelle: https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/coronavirus-jugendliche-kinder-psyche-100.html). Er plädiert für eine Öffnung der Beschränkungen für Kinder- und Jugendliche, um ihnen direkte soziale Kontakte zu ermöglichen.

„Wenn die Bevölkerung mit der Einhaltung der Hygieneregeln, den Abstandsregeln nachlässt, dann kann das innerhalb weniger Tage losgehen und dann werden wir das auch sehen. Zunächst einmal an den Infektionszahlen und dann mit einem gewissen Verzug auch mit den schweren Erkrankungen, die auf Intensivstation liegen oder auch an Beatmungsgeräte angeschlossen werden müssen“, so die Einschätzung am Abend des 6. Mai 2020 von Uwe Gerd Liebert, Leiter des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Leipzig, in den Tagesthemen der ARD. „Also, die Welle muss nicht unbedingt kommen, das hängt von unserem Verhalten ab.“ (Quelle: http://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tt-7499.html)

„Auch die Bundesliga möchte durch Untersuchung symptomfreier Fußballer ihre Geisterspiele gegen Covid-19 absichern. Warum dies nicht auch zum Schutz von Arztpraxen, Bewohnern von Altersheimen und anderen Risikopersonen oder zur Vermeidung aus dem Ausland eingeschleppter Infektionen möglich sein soll, ist nicht nachvollziehbar“, fragt sich in einem Gastbeitrag für die Zeit der Virologe Alexander Kekulé  (Quelle: https://www.zeit.de/wissen/2020-05/lockerungen-corona-massnahmen-lockdown-oeffnungen-schulen-alexander-kekule/komplettansicht). Er selbst hält die getroffenen Lockerungen für “brandgefährlich”. Die Methode “Beschleunigen und Bremsen” sei nach seiner Auffassung “ethisch nicht unproblematisch. Durch die Lockerungen setzt die Politik de facto Menschen einem erhöhten Infektionsrisiko aus, ohne dies offen zu kommunizieren.” (Quelle: ebenda)

Mein viertes Fazit:

Dividende für Automanager © Die Linke
Dividende für Automanager © Die Linke

Unser Verhalten richtet sich an Vorbildern aus: Landesfürsten würgen die Bundeskanzlerin ab. Profifußballer werden im Umfeld ihres jetzigen Trainings und der avisierten Bundesligaspiele mehrfachgetestet. Gleichzeitig verwehrt man Erzieherinnen und Erziehern in Leipziger Kindereinrichtungen diese Tests und sie erhalten erst nach acht Woche Corona Time einen Mundschutz. Autokonzernmanager schicken ihre Belegschaft in staatlich finanzierte Kurzarbeit und fordern bei der Bundeskanzlerin Prämien für den Absatz ihrer Umweltschleudern ein, gleichzeitig streichen sie aber hohe Dividenden ein (Quelle: https://www.die-linke.de/start/nachrichten/detail/mobilitaetswende-und-sozial-oekologische-transformation-der-autoindustrie/).

Das macht etwas mit den Menschen, die nicht die Geduld mitbringen, für ihr eigenes und das Leben des Nachbarn, einfach einmal einen gewissen Zeitraum auf die Luxusdinge des westlichen Alltags zu verzichten. Der Druck muss in eine andere Richtung gehen. Nicht in Richtung Öffnung der Beschränkungen, sondern in Richtung der Lobbyisten, die schon wieder aus einer Krise Kapital schlagen wollen. Ob es um die Landesfürsten im Machtkampf um die Kanzleranwartschaft geht, Fußballmillionäre oder betrügerische Autokonzernmanager.

„Wahr ist, die Zeit wird nicht spurlos an uns vorbeigehen. Wir werden einiges von dem gemeinsam erarbeiteten Wohlstand preisgeben. Aber wir sind und wir bleiben eine starke Volkswirtschaft – mit Millionen Menschen, die weiter anpacken oder wieder loslegen wollen. So wie wir das Virus gemeinsam besiegen werden, so werden wir uns mit Fleiß und Klugheit auch aus dem wirtschaftlichen Tal gemeinsam wieder herausarbeiten.“ Frank-Walter Steinmeier am 22. April 2020 (Quelle: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2020/04/200422-Videobotschaft-Corona-6.html)

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