Lebenslang für Zschäpe oder ein nicht abgeschlossener Fall von Staatsversagen?

Die bekannten Opfer des NSU-Terrors. © sz-magazin.de/nsu
Die bekannten Opfer des NSU-Terrors. © sz-magazin.de/nsu

Nach 437 Verhandlungstagen in gut fünf Jahren hat das Oberlandesgericht München die Hauptverdächtige im Prozess um die Morde des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) Beate Zschäpe und ihre Mitangeklagten zu den lang erwarteten Strafen verurteilt. Die lebenslange Haft basiert auf Indizien und droht gegebenenfalls durch eine Revision der Pflichtverteidiger wieder gekippt zu werden. Die Hauptkritik an diesem Mammutgerichtsprozess ist und bleibt, dass die zwei mutmaßlichen toten Haupttäter und ihre kleine unschuldig wirkende Mitläuferin Hintermänner hatten, die nicht vor Gericht standen. Es gab immer wieder Hinweise auf Kreise des Verfassungsschutzes, des Bundesnachrichtendienstes und von Landeskriminalämtern, die wissentlich oder sogar organisatorisch an der Entstehung des NSU und anderer rechtsextremistischer Gruppierungen beteiligt waren. Und nicht nur das, die Sicherheitsorgane sollen den verschiedenen Berichten zufolge weggesehen oder gar Beweismaterial beiseitegeschafft haben. Erinnert sei an die enthüllten Schredderaktionen im Landeskriminalamt Thüringen. Die Stuttgarter Nachrichten vom 19.07.2012 deckten „das Zurückhalten von Informationen durch Regierungsmitarbeiter im Zusammenhang mit der NSU-Affäre auf. Es stellte sich heraus, dass die zuständige innenministeriale Projektgruppe erst am 17.07.2012 Informationen über die Schredder-Anordnung des Bundesministeriums des Inneren (BMI) vom 14.11.2011 an den Bundestags-Untersuchungsausschuss weitergab.“ (Quelle: https://ingloriousblog.wordpress.com/tag/beweisvernichtung/)

An einem entscheidenden Punkt der Ermittlungen gegen den NSU fand man Ende 2013 auf dem Computer des damaligen Ausschussvorsitzenden Sebastian Edathy (SPD) kinderpornografisches Material. Das war das Aus für einen Mann, der scheinbar den Anspruch hatte, den NSU-Fall zu einem Fall der Sicherheitstruppe bis hoch zum Generalbundesanwalt werden zu lassen. Die Frage damals war, woher diese Hinweise genau zu dieser Zeit kamen oder ob die Ermittler nicht sogar schon bei Einsetzung von Edathy von den Vorwürfen gegen ihn wussten. Hatte man doch damit ein Druckmittel für einen entscheidenden Moment in der Hand.

Viele von den offenen Fragen wirft Wolfgang Schorlau in seinem Buch „Die schützende Hand“ auf. Er mischt in seinem sehr gut recherchierten Buch Tatsachen mit selbst angestellten Überlegungen sowie dichterischer Freiheit zu einem Brei der Abscheulichkeiten zusammen. Er zieht daher am Ende des Buches folgendes Fazit:

„Finden und Erfinden — ein Nachwort

Dieses Buch ist eine literarische Ermittlung in einem realen Kriminalfall. Und ich fürchte, es ist die Ermittlung eines Staatsverbrechens. Ich kenne die vollständige Wahrheit über die rechtsterroristischen Verbrechen des NSU und die Verwicklungen der Staatsschutzbehörden darin ebenso wenig wie andere. Allerdings bin ich mir mittlerweile sicher, dass die offizielle Erzählung über die NSU, die Geschichte eines isolierten verbrecherischen Trios, von dem zwei Personen tot sind und die dritte ihrer Verurteilung entgegensieht, haltlos ist. Ich lege mehr oder weniger bekannte Fakten die meisten sind nur internen Kreisen bekannt auf eine andere Art zusammen und gelange zu einem anderen Bild.

Die Recherchen zum Tod von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt habe ich, wie der Leser leicht sehen wird, sehr eng anhand der offiziellen Ermittlungsliteratur geführt. Aus ihnen geht bereits eindeutig hervor, dass der von den Behörden erzählte Ablauf (Mundlos erschießt Böhnhardt, legt Feuer und richtet sich dann selbst) sich so nicht zugetragen haben kann. Ansatzpunkt der Recherche war für mich wie für Georg Dengler die atemraubende Vertuschung und Verschleierung rund um die Geschehnisse, die sich in Eisenach-Stregda zugetragen haben. Was tatsächlich geschah und was inszeniert, erfunden, zerstört wurde, versuche ich detailliert zu rekonstruieren.

Dengler entwickelt in diesem Buch eine eigene Auffassung, ein eigenes Bild davon, was sich in dem Camper zugetragen haben mag. Es ist nur eine Erzählung, aber ich halte sie nach allem, was ich heute weiß, für deutlich realitätstüchtiger als die offiziellen Bekundungen.“ (Wolfgang Schorlau: Die schützende Hand. Kiepenheuer & Witsch, Seite 363)

Nun stehen Urteile fest. Es sind aber keine Urteile über das Versagen des Sicherheitsapparates und damit der verantwortlichen Regierungen auf Landes- und Bundesebene. Vielleicht haben wir den Geschehnissen um die NSU zu verdanken, dass Polizei und Staatsschutz aufmerksamer wurden. Zumindest gab es seither keine Toten mehr bei den vielen Übergriffen auf ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger.

Eingeschlossen die 10 bekannten oder besser bekanntgegebenen Todesopfer des NSU-Trios und seiner Helfershelfer gab es seit 1990 mindestens 193 Tote durch rechte Gewalt. Das hat die Amadeu Antonio Stiftung recherchiert. (Quelle: https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/news/chronik-der-gewalt/todesopfer-rechtsextremer-und-rassistischer-gewalt-seit-1990/) An andere Stelle in dem Bericht von „Mut gegen rechte Gewalt“ heißt es wörtlich: „Aufgrund [des] öffentlichen Drucks entschied sich das Bundeskriminalamt zusammen mit allen 16 Landeskriminalämtern, mehr als 3.300 unaufgeklärte versuchte und vollendete Tötungsdelikte zwischen 1990 und 2011 noch einmal auf ein mögliches rechtsextremes Tatmotiv zu prüfen. Schließlich wurden bei 745 Tötungsdelikten und -versuchen (mit insgesamt 849 Opfern) Anhaltspunkte für ein rechtes Tatmotiv gefunden. In diese Überprüfung sind die bisher nicht anerkannten 117 Fälle der Liste der ‚Todesopfer rechter Gewalt von 1990-2011‘ miteinbezogen, die von ‚Der Tagesspiegel‘ und ‚Die Zeit‘ geführt wird.“

Wer auch immer verantwortlich dafür ist, dass die NSU-Bande so wüten konnte, wird sich nie zu erkennen geben. Ich verfolge hier sicherlich keine Verschwörungstheorien, wenn ich behaupte, dass man im Prozess um die Morde und andere Verbrechen der Täter wie Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe eher zu einem Ergebnis hätte kommen können und müssen. Ohne mit der politischen „Keule“ zu schwingen, bedurfte es hier harter Urteile, die aus rechten Gewalttätern keine Märtyrer machen, sondern aufzeigen, dass der Rechtsstaat keine Verbrechen gegen Menschen, egal welcher Herkunft und welchen Glaubens, ungestraft lässt.

Und dieses Rechtsbewusstsein beginnt im Kleinen: beim Wegschauen, beim Weghören, beim Ignorieren von Gesprächsinhalten … Aus kleinen Gedanken und Worten können sich schnell große Sprüche und Taten entwickeln, die u.a. zu toten Flüchtlingen im Mittelmeer und abstrusen, menschenverachtenden Aussagen eines anscheinend geistig senilen 69-jährigen Heimatmuseumsministers führen.