Der Tod des Vaters – aus „NICHT GESELLSCHAFTSFÄHIG. TOD, VERLUST, TRAUER und das LEBEN“

"Nicht geselllschaftsfähig. Tod, Verlust, Trauer und das Leben" © Schwarwel 2022
"Nicht geselllschaftsfähig. Tod, Verlust, Trauer und das Leben" © Schwarwel 2022

Der Tod des Vaters

Zu dritt am Grab. Mit dem Bestatter, der die Urne langsam und verunsichert in das kleine Loch gleiten lässt. Es herrscht keine Trauer.

Warum sollte ich um einen Mann trauern, den ich gar nicht kannte? Wir waren vorher, in der Kapelle eher heiter. Lachten davor sogar kurz. Nur der kurze Moment der Stille im Dunklen, von ein paar Kerzen leicht erhellten Rundbau, unterbricht die vermeintlich fröhliche Stimmung. Nur dieser Moment. Ungläubige Blicke des Bestatters.

Warum beschleicht mich dieser Gedanke an die Zeit des Verlustes gerade heute? An einen Vater, der zum großen Bruder meinte, er wolle mit dem Jüngsten, also mit mir, nichts zu tun haben.

Ich hatte seit Weihnachten 1970 nichts mehr mit ihm zu tun. Mit den Metallautos im Künstleratelier, über der Durchfahrt zu den Innenhöfen, machte er mir sein Abschiedsgeschenk. 24 Jahre bevor ich ihn auf dem Weg zum Grab hinterherlief. Das Sattelschlepperset gehörte zu meinen Lieblingsspielzeugen über eine lange Zeit. Es waren Bühnentrucks für die Bands, die ich erst viele Zeit später habe live erleben können. Sie waren am Straßenbau auf dem Spannboden des Ex-Baus im Kinderzimmer beteiligt. Oder transportierten die ersten mit Ostmark bezahlten Matchbox-Autos durch die Stuben der Drei-Raum-Neubau-Wohnung. In der Fantasie saß ich am Lenker und manövrierte die miniaturisierten 40-Tonner mit Leichtigkeit. Nie ein Gedanke an den Verschenker.

Keine Sehnsucht nach dem Mann, der dahingeschieden ist. Es gibt nur die Erinnerung an diesen Vorweihnachtsabend in der kleinen Heimatstadt. An diesen großen Mann mit seiner Offiziersuniform, der im Hauptbahnhof einen Soldaten zum Salutieren zurückorderte. Keine Erinnerung daran, wie lange wir Zeit gemeinsam mit den viel älteren Geschwistern und ihm verbrachten. Die Mutter hatte den Raum über den Kulturbund für uns gemietet. Ein großer Raum, hell erleuchtet, einem Seminarraum gleich, mit den üblichen Sprelacartmöbeln. Das war aber nicht wichtig. Ich hatte nur Augen für meine Trucks. Keine Erinnerungen an Gespräche. Wie auch an die Jahre, die wir hier gemeinsam irgendwann in der Zeit zwischen 1964 und 1966 in der elterlichen Wohnung verbracht haben müssen. Nur dieser Geschenkeabend und auch die vorhergehende Sommerferienwoche bei ihm in Magdeburg sind in meinen Erinnerungen gespeichert.

Der Sommer 1970. Eine Woche mit Bruder und Schwester bei unserem Vater. Eine dunkle Drei-Raum-Altbau-Wohnung. Groß damals für mich. Wir hatten Platz zum Spielen mit der historischen Kavallerielafette, Budenbauen im Flur. Fahrt mit Touristenbus aus einem umgebauten Barkas mit Anhängern durch die Neubau-Bezirkshauptstadt. Und das Wahlfischgulasch im Gastmahl des Meeres. Ich mochte damals keinen Fisch. Wurde ausgetrickst, weil ich erst zum 1. September zum Lesen und Schreiben lernen eingeschult werden sollte. Viel mehr blieb nicht von diesem Urlaub, während meine Mutter ihren neuen Mann an ihrer Seite heiratete und die Flitterwoche verbrachte, in meinem Gedankenregal verstaut. Ein liebevoll gestaltetes Schwarz-Weiß-Fotoalbum frischt diese Fragmente von Zeit zu Zeit auf.

Zu Hause wurde mit mir nicht über meinen Vater gesprochen. Bruder und Schwester pflegten heimlich Briefkontakt mit ihm. Mir war damals nicht bewusst, wie sie ihre Antworten erhielten. Bis zu dem Tag, wo unsere Mutter einen Brief meiner Schwester an den Vater fand. Bittere Worte über das Familienleben mit dem Neuen. Stubenarrest, Streit und Bevorzugung des sieben Jahre jüngeren Bruders waren die Informationen, die den Vater erreichen sollten, aber mütterlicherseits mit einem Hauslatsch auf dem Rücken der großen Schwester ausgetrieben wurden. Prägend für sie und für mich als Beobachter. Der große Bruder war schon ausgezogen. Wie ich später erfuhr, war auch hier das Verhältnis zwischen Mutter-Sohn-Vater der treibende Keil ins Lehrlingsinternat.

Zu den Geschwistern schaute ich immer auf, wollte eigentlich so sein wie sie. Jimi Hendrix, Uschi Brüning, Beatles, der selbst eingerichtete Clubraum für die Clique … das war schon cool. Und doch fanden wir nie zusammen. Bis heute. Der Kleine wurde bevorzugt. Er hatte ein besseres Leben. Wurde verwöhnt und lief konform mit den Patchworkeltern.

Bruder und Schwester redeten auch nie über den Vater. Erst an diesem strahlenden Sonnentag in Pritzwalk. Vor der Feierhalle. Erste Scherze über den, den wir alle „Vater“ nannten. Keine Emotionen. Der Große kümmerte sich um alles und hat auch die Grabpflege bis heute organisiert. Er hatte den engsten Kontakt zum Vater. Besuchte ihn mehrfach im Jahr und kannte ihn wohl am besten. Vielleicht war er am nächsten an ihm dran. Doch auch in ihm keine emotionale Regung, die eine Trauer verspüren ließ. Was war das für ein Verhältnis? Was führte dazu, dass wir drei ohne Respekt vor dem toten Vater die Verschiebung der Asche ins Grab verfolgten? Verabschiedung eines Unbekannten mit genetischer Übereinstimmung auf dem Friedhof seiner Ahnen. Großvater, Großmutter, Kriegs-verschollener Onkel in unmittelbarer Nähe zum frisch ausgehobenen Löchlein. Erinnerungsstätte, die ich bemüht war, einmal im Jahr auf dem Weg in den Urlaub an der Ostsee zu besuchen und mit einem billigen Tankstellenblumenstrauß zu bedenken. Pflichtgefühl? Weil man das so macht? Welche Regel gilt hier? Auch dann noch keine Trauer zu spüren. Vielleicht nur der Gedanke daran, dass es ein Mensch wie jeder andere ist, der genau hier in Pritzwalk seine „letzte“ Ruhe gefunden hat.

Was bleibt außer der glänzenden Urnengrababdeckung eines Menschen, den man als seinen Erzeuger bezeichnen darf? Vielleicht der Holzdreschflegel, der den vierten Umzug überstanden hat? Oder die Traurigkeit über den Verlust des Transistorradios aus seiner verwahrlosten letzten Wohnung im thüringischen Frauenwald, wo er seine Abschiebung als Hausmeister im ehemaligen NVA-Ferienobjekt erdulden musste und einsam an Lungenkrebs an der Seite eine Hundemischlings verstarb? Vielleicht der Zorn, dass ich selbst keine Anstrengungen nach der elterlichen Unabhängigkeit unternommen habe, vorbei an den Ablehnungen des Bruders, mit dem Vater Kontakt aufzunehmen? Kann sein, dass die Wende und die eigene Angst um die persönliche Zukunft oder die Trennung von der eigenen Familie, den geliebten zwei Töchtern, zur Verdrängung der Existenz des eigenen Vaters führte? Es ist auch möglich, dass ich die neue Familienkonstellation mit Mutter und Daddy als zufriedenstellend für meine Entwicklung bis zur Wende empfand? Ist es nicht heute zu mühselig, darüber zu fabulieren, was die Gründe des Vergessens sind?

Nein, denn was wird von mir bleiben? Werden meine Töchter, die ich, genau wie mein Vater mich, nach der Trennung von der Mutter im Stich gelassen hatte, an meinem Grab lachen werden? Gelöst, dass er endlich tot ist. Der Mensch, der an ihrem Erleben des Lebens wenig Interesse zeigte, wie es in Kita, Schule, Ausbildung oder Studium um sie bestellt war. Der nicht da war, wenn es den ersten Liebeskummer gab. Der die Pubertät nicht als Puffer und ersten Aufschrei der Unabhängigkeit in Geist und Handeln der beiden Mädels aushalten musste. Mit diesem Schaden bis heute lebend, mache ich mir Gedanke, was bei den Schwestern von mir nach meinem Tod als Erinnerungen haften bleiben wird. Oder ist es nicht sogar egoistisch von mir, zu erwarten, dass die geliebten Töchter über den Verlust des Vaters auch nur eine Träne verlieren sollten?

Warum also diese Gedanken? Ich hatte auch nichts gefühlt, als ich das Urnengefäß aufgebahrt in der Rundhalle in Pritzwalk, in den Händen des Bestatters und beim Verschwinden in der Erde gesehen hatte. Keine Trauer. Kein Verlust. Und doch Verpflichtung, mich damit auseinanderzusetzen, weil es der Tod des Vaters war, der mich an die Endlichkeit meines Lebens erinnern sollte.

Anders machen? Ich weiß die Verantwortung gegenüber meinem Sohn aus der jetzigen Ehe. Vorleben. Das immer im Auge behalten, was unsere Menschlichkeit ausmacht. Empathie und Umsicht gegenüber dem Leben. Dazu gehört auch, dass mir geliebte und vertraute Menschen mich verlassen werden oder ich sie. Sie gründen neue Familien, lernen neue Freunde kennen, ziehen um, wechseln bewusst oder gezwungen den Job, verlieren selbst Liebste oder sterben. Vieles ändert sich im Laufe des Lebens. Wenn mir die Zeit für die Trauer über den Verlust verloren geht, geht ein Stück meines eigenen Ichs in eine Wolke des Vergessens auf.

Deshalb heute die Erinnerung an den Tod meines Vaters.


Hintergrund

Am 23. August 2022 erschien das zweite Buch in der Reihe #nichtgesellschaftsfähig „Tod, Verlust, Trauer und das Leben“. Sandra Strauß und Schwarwel haben erneut eine über 600-seitige Anthologie mit Texten herausgegeben, die ein Thema behandeln, das scheinbar nicht gesellschaftsfähig ist. Dieser Text ist für dieses Buch geschrieben worden.

Uns begegnet der Tod täglich. Manchmal nehmen wir ihn wahr, weil er liebe Menschen oder Lebewesen aus unserem nächsten Umfeld reißt. Dann wiederum wollen sich die Menschen nicht damit beschäftigen, weil das Leben um sie herum doch bunt, unkompliziert, abenteuerlich und Spaß erfüllt sein soll. Da passt der Tod nicht hinein. Und doch begegnet uns der Krake des Lebensendes auch in dieser Fun gesteuerten Oberflächlichkeit des menschlich entarteten Daseins. Mit Genuss konsumieren wir Thriller, Agenten-Blockbuster, Computer-Games, in den Menschen sterben oder von uns aktiv getötet werden. Wir schreien vom heiligen Fernsehsessel nach Waffen für Kriegsgebiete, in denen sich Menschen gegenüberstehen und sich fernab von der häuslichen Ruhe für unseren Wohlstand ermorden. Mit einer gesteuerten Genugtuung spendieren wir allweihnachtlich kleinere und größere Steuersparbeträge an die großen hungernden Kinderaugen oder in die Tierpensionen dieser Welt, um unsere Seele reinzuwaschen.

Der Tod muss diskutiert werden. Er wird uns alle nicht loslassen, hat uns so fest im Griff, dass nicht wir, sondern er entscheidet, wann wir die Bühne des Lebens verlassen werden. Für diese Lebenszeit brauchen wir die Zeit, um uns darauf vorzubereiten, dass wir gelebt haben. Für uns selbst, für unserer Familien und Freunde, für den Nächsten und auch den Übernächsten, auch für diejenigen, die nicht aus unserem vermeintlichen Kulturkreis stammen. Denn wir alle sind Menschen mit einem begrenzten Zeitfenster auf dieser Welt.


Sandra Strauß und Schwarwel (Hrsg.)

„NICHT GESELLSCHAFTSFÄHIG TOD, VERLUST, TRAUER und das LEBEN“

Über 80 Autor:innen
Über 600 Fotos, Illustrationen, Comics, Graphic Novels, Cartoons, Karikaturen und Bildern
652 Seiten
Ami-Format (17 x 24 cm)
Softcover, vollfarbig
VÖ: 23.08.2022
Glücklicher Montag
VK: 34,90 EUR
ISBN: 978-3-948518-10-3

Erhältlich im Glücklicher Montag Shop: www.gluecklicher-montag-shop.de/product-category/nichtgesellschaftsfaehig