Denkanstoß des Tages – Über die emotionale Nähe von Nachrichten – Gastbeitrag von Mounir Zitouni

Foto: Tina Hartung by unsplash.com
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Als Journalist in der Ausbildung bekam ich vor vielen Jahren einen Satz von Kollegen mit, der mich bis heute immer mal wieder beschäftigt.

Es hieß damals: Für eine Nachricht in der Zeitung brauche es im Inland einen Verletzten, einen Toten für das benachbarte Ausland und 10 Tote für einen anderen Kontinent (außer den USA). Man löse sich von den Zahlen, es geht um den Umstand an sich, dass je weiter die Menschen weg von uns sind, desto weniger wir uns für sie interessieren.

Sind Menschenleben unterschiedlich wert? Kann man sie in Zahlen aufwiegen? Tickt unsere Welt tatsächlich so?

Ich weiß noch, wie ich 2016 kurz nach einem Erdbeben zusammen mit meiner Frau nach Tansania einreiste. Die Zerstörungen waren überall zu sehen, es hatte etwa 15 Tote gegeben, viele Verletzte und Tausende, die aus ihren Häusern geflüchtet waren. Ich redete mit Menschen, Politikern und schrieb eine Reportage, die ich mehreren Medien anbot. Der Text erschien nirgends (außer auf der Webseite von Jambo Bukoba, einer großartigen Hilfsorganisation). „Afrika hatten wir letzte Woche schon einmal groß“, war einer der Kommentare aus einem renommierten Medienhaus.

Es ist traurig, aber je näher etwas passiert desto mehr können wir uns damit identifizieren. Ein Autounfall in der Nachbarstrasse beschäftigt uns Wochen, ein anderer 100 Km entfernt kaum. Verfügbarkeitsheuristik nennen dies Experten. Das, was da ist, beschäftigt unser Hirn, der Rest wird verdrängt. Der Komplexität des Lebens begegnen wir mit Denkabkürzungen, weil sich unser Gehirn nach kognitiver Leichtigkeit sehnt. Weil wir uns emotional schützen wollen und müssen. Kein Mensch könnte sonst noch seinem Leben normal nachgehen.

Aktuell beschäftigt viele Menschen der Krieg in der Ukraine auf eine ganz intensive Weise. Natürlich. Ein Land, nur mehrere Hundert Kilometer entfernt, wird brutal angegriffen. Wir erleben einen europäischen Nachbarn, der tausende von zivilen Opfern zu beklagen hat. Wir sehen einen Krieg, der direkte Auswirkungen auf unser Leben hat: In Sachen Energie-Politik, Flüchtlinge, Sicherheit. Wir könnten in einen Krieg mithineingezogen werden. All das ist verstörend, bedrohlich und schrecklich. Dazu werden wir täglich mit schlimmen Bildern aus dem Kriegsgebiet konfrontiert. Sie wühlen uns noch mehr auf. Viele Menschen tun eine Menge derzeit, um zu helfen. Und das ist schön wie richtig.

Aber natürlich hat es auch schon vorher viel schreckliches Leid in der Welt gegeben: Der Krieg in Syrien und Jemen, Hungersnot in Madagaskar und Eritrea, Naturkatastrophen überall auf der Welt, Flüchtlingsdramen im Mittelmeer.

Ist es ungerecht, dass man sich bei anderen Katastrophen nicht so emotional und materiell engagiert hat? Ja, das ist es.

Heute Morgen spendest du für die Kinder-Welthungerhilfe und am Nachmittag gehst du an dem Obdachlosen in der Innenstadt wortlos vorbei. Du bist betroffen von den Bildern aus Mariupol, und bei Berichten aus dem Jemen im Auslandsjournal zappst du weiter.

Wir können nicht die ganze Welt retten, wir können anfangen uns selbst zu retten und dann sehen, für wen die Kraft, das Mitgefühl und das Geld sonst noch langt. Wir sollten uns bewusst werden, dass wir Menschen an vielen Stellen wegschauen wollen und müssen. Doch wenn ich Leute höre, die nun kritisieren, dass bei anderen Kriegen nicht so genau hingeschaut wurde, dann ist das zynisch und nutzt den Opfern in der Ukraine, den Geflüchteten aus Kiew, Lwiw und Charkiw nur wenig.

Der ukrainische Präsident Selenskyi bekam die Gelegenheit, in einer Schalte zu dem US-Abgeordnetenhaus zu sprechen. Viele der Parlamentarier mussten angesichts der Ausführungen weinen. Sie werden sich mit Sicherheit noch stärker engagieren, weil sie emotional berührt wurden.

Es ist schade, dass nicht mehr Politiker, Opfer, diese Gelegenheit bekommen, von ihrem Leid so fühl- und nahbar zu erzählen. Auch das ist ungerecht. Aber wenn man jetzt einen einzigen Menschen retten kann, dann geht es genau darum: kein Vergleich, kein Abwägen, sondern Hilfe im Hier und Jetzt. Alles andere wäre Sarkasmus und Zynismus.

Also an alle, die glauben, dass sie im aktuellen Krieg jemanden beweisen müssen, dass die massive Unterstützung des Westens für die Ukraine im Vergleich zu anderen schlimmen Katastrophen nicht gerecht ist: Es ist unmöglich, in dieser Welt allen Missständen gegenüber gerecht zu sein. Alle handeln immer aus ihrer Perspektive heraus, auch und gerade, wenn es um Mitgefühl und Engagement geht. Deswegen geht es aktuell nicht ums Theoretisieren, sondern ums Helfen. Für Menschen, die unsere Hilfe brauchen. Punkt.

(Quelle: https://www.facebook.com/995187890676576/posts/1794811690714188/)

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Mounir Zitouni (* 15. September 1970 in Leipzig) ist ein ehemaliger deutsch-tunesischer Fußballspieler und hat zwischen 2005 und 2018 für den kicker als Redakteur gearbeitet. Seit Beginn 2019 arbeitet er als selbständiger Business-Coach in Frankfurt am Main.

Bereits während seiner Fußball-Karriere machte Zitouni, der ein Germanistik-Studium abschloss, erste Erfahrungen im Journalismus und absolvierte zwischen 2003 und 2005 ein Volontariat bei der Frankfurter Rundschau. 2005 wurde er Redakteur beim kicker Sportmagazin und berichtete u. a. über den FC Bayern München und über diverse Fußball-Europa- und Weltmeisterschaften. (Quelle: https://de.m.wikipedia.org/wiki/Mounir Zitouni)

https://mounir-zitouni.de/

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Foto: Tina Hartung by unsplash.com