
Ein neuer Krieg im Nahen Osten erschütterte die Weltöffentlichkeit. Im Jahr 2025 ist ein offener Krieg zwischen Israel und Iran ausgebrochen, der durch einen präventiven israelischen Angriff auf iranische Atomanlagen eskalierte. Die USA haben sich kurz darauf direkt in diesen Konflikt eingeschaltet, indem sie iranische Nuklearanlagen bombardieren[1]. US-Präsident Trump erklärte stolz die „vollständige Zerstörung“ der iranischen Atomanlagen[2], was sich mittlerweile als ein weiterer großer Irrglaube erwiesen hat, und er drohte Teheran mit weiteren Schlägen man nicht kapituliere[3]. Und auch hier nahm der Mann den Mund zu voll, den Teheran hat nicht kapituliert. Washington tritt damit erneut als gefährlicher Akteur auf, der das Kriegsgeschehen weiter anheizt – sehr zum Beifall einiger westlicher Hardliner. In Teheran schwört man indes auf Vergeltung und behält sich „alle Optionen“ zur Selbstverteidigung vor[4]. Die Furcht wächst, dass ein Gegenschlag gegen amerikanische oder israelische Ziele den gesamten Westen in Mitleidenschaft ziehen könnte. Ein solcher Angriff könnte sogar den Bündnisfall nach Artikel 5 des NATO-Vertrags auslösen – mit unabsehbaren Folgen für Europa und Deutschland, das dann gezwungen wäre, aktiv in den Krieg einzutreten.
In Deutschland sorgt vor allem eine Aussage von Bundeskanzler Friedrich Merz für Aufsehen. Merz lobte Israels Vorgehen gegen Teheran in drastischen Worten: „Das ist die Drecksarbeit, die Israel macht für uns alle“, sagte er in einem Interview mit dem ZDF[5]. Damit brachte er „Dankbarkeit“ dafür zum Ausdruck, dass Israel die riskante Militäraktion durchführt, die der Westen gerne erledigt sähe, aber nicht selbst anzupacken wagt[6]. Merz deutete zudem an, dass Israel alleine das iranische Atomprogramm nicht vollständig eliminieren könne – „dazu fehlen ihr die notwendigen Waffen, aber die haben die Amerikaner“[7]. Diese Worte bestätigen ein altes Muster: Westliche Politiker überlassen anderen die blutige Arbeit und applaudieren aus sicherer Entfernung. Doch Merz’ Äußerungen haben eine Debatte entfacht. Soll Deutschland künftig selbst die „Drecksarbeit“ erledigen? In der Bild wurde bereits perfide und unverholen gefordert, Deutschland müsse lernen, diese Arbeit „selbst zu machen – nicht nur militärisch, sondern auch politisch“[8]. Merz selbst ergänzte kurz darauf sinngemäß, Deutschland dürfe nicht länger nur zusehen, wie Israel die gefährliche Mission ausführt – deutsche Soldaten müssten im Ernstfall eigene Verantwortung übernehmen. Solche Aussagen markieren einen Tabubruch. Nach Jahrzehnten vornehmer Zurückhaltung steht nun die Kriegstüchtigkeit Deutschlands – also die Fähigkeit und Bereitschaft, Kriege aus eigener Kraft zu führen – offen zur Diskussion.
2024 erschien Ole Nymoens viel diskutiertes Buch „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde: Gegen die Kriegstüchtigkeit“. Nymoen, ein junger Autor, der das militärische „Mindset“ der Gegenwart kritisch unter die Lupe nimmt, liefert in diesem Sachbuch eine schonungslose Abrechnung mit dem Kriegseifer und der Mentalität der Mobilmachung, die sich schleichend in Politik und Öffentlichkeit breitmacht. Angesichts der aktuellen Zuspitzung – der Möglichkeit, dass wieder Deutschland in einen Krieg hineingezogen wird – gewinnen Nymoens Thesen dramatisch an Aktualität. Die zentralen Aussagen dieses Buches verknüpfen die gegenwärtigen Entwicklungen mit einer kritischen Kommentierung. Ist Deutschlands neu entflammte Kriegstüchtigkeit wirklich alternativlos – oder gibt es einen Ausweg zurück zum Friedenswillen?
Das Wesen des Krieges und die Rolle des Staates
Ole Nymoens Buch beginnt mit einer fundamentalen Frage: Was ist eigentlich Krieg, und wozu soll er gut sein? Der Autor kommt zu einer bitteren Definition. „Wenn es so etwas wie das Wesen des Krieges gibt, dann liegt es wohl darin: Die Herrscher eines Staats stellen den eigenen Machtausbau oder -erhalt, also ihre staatliche Souveränität, über das Leben der Bürger und verfügen bedingungslos über ebendiese.“ (S. 38) Mit anderen Worten: Krieg dient vor allem den Machtinteressen der staatlichen Führung. Regierende sind bereit, für Gebietsgewinne oder Machtansprüche über Leichen zu gehen – buchstäblich. Nicht die Bevölkerung entscheidet über Krieg und Frieden, sondern diejenigen an der Spitze eines Staates. Krieg beginnt, wenn er von oben befohlen wird, nicht weil normale Menschen im Alltag Konflikte mit ihresgleichen austragen. Nymoen beschreibt eindringlich, dass Soldaten nicht aus persönlichem Hass auf Fremde töten, sondern weil sie von ihren Herrschern dazu kommandiert werden.
Diese Analyse entzaubert jede nationalistische oder bündnishörige Kriegsrhetorik. Die gängige Behauptung, ein Krieg diene der Sicherheit der Bürger, stellt Nymoen auf den Kopf: „Wenn die Rede davon ist, dass der Staat Y «sich selbst» verteidige, wird genau diese Unterscheidung zwischen Volk und Führung verwischt. Suggeriert wird, dass die staatliche Selbstverteidigung gleichbedeutend sei mit dem Schutz der Bürger. Und bekanntlich ist eines der wichtigsten Versprechen von Staaten an ihr Volk: Sicherheit. Aber stimmt das wirklich? Um wessen Sicherheit geht es hier?“ (S. 42). Ein zentrales Versprechen moderner Staaten lautet zwar Schutz und Sicherheit für das Volk – doch im Krieg zeigt sich, dass damit vor allem die Sicherheit des Staates selbst gemeint ist, nicht die der einzelnen Menschen. Frontsoldaten etwa genießen keinerlei Sicherheit: „In jedem Moment, in dem sie die staatliche Souveränität verteidigen, ist ihr Leben bedroht; um sie herum hagelt es Kugeln, Bomben und Granaten. Selbst in dem Fall, dass sie körperlich unversehrt bleiben, werden sie nie mehr dieselben sein.“ (S. 42) werden. Ihr persönliches Überleben wird dem höheren Ziel der Verteidigung der staatlichen Ordnung geopfert. Nymoen entlarvt diese staatliche Verteidigungsideologie als eine Art Betrug: was als Schutz der Bevölkerung verkauft wird, ist in Wahrheit die Bereitschaft der Herrschenden, das eigene Volk für ihre Macht aufs Spiel zu setzen. [Zitat prüfen]
Auch die jüngsten Äußerungen von Friedrich Merz spiegeln diese Logik wider. Wenn Merz jetzt implizit fordert, deutsche Soldaten mögen doch bitte selbst in den Kampf ziehen, um westliche Interessen zu sichern, reiht er sich nahtlos in jene Tradition von Politikern ein, die laut Nymoen den Bürgern die „Wieder-Machtwerdung“ Deutschlands schmackhaft machen wollen (S. 13). Viele Bürger wären für einen Krieg nämlich höchstens abstrakt zu begeistern – „kämpfen sollen aber bitte die anderen“ (S. 13). Genau deshalb trommeln Politiker:innen und Meinungsmacher:innen dafür, eine neue nationale Opferbereitschaft zu wecken, notfalls auch auf Kosten des Lebensstandards oder Lebens der Bürger:innen. Nymoen hält dagegen: Patriotische Parolen von „Verteidigung“ dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Krieg immer Sterben und Töten im Auftrag des Staates bedeutet.
Besonders eindrucksvoll beschreibt Nymoen die Entmenschlichung, die mit jedem Krieg einhergeht. Sobald die Mobilmachung beginnt, wird der Einzelne zum bloßen Rädchen im militärischen Getriebe degradiert. „[Der Mensch] wird entmenschlicht, und zwar im wortwörtlichen Sinne. Der homo sapiens, der eigentlich ein vernunftbegabtes Wesen sein sollte, wird zum Ding, zum bloßen Werkzeug der Machthaber; alle Vernunft wird dem Gehorsam unterworfen.“ (S. 39). Aus friedlichen Bürger:innen werden Befehlsempfänger gemacht. Im zivilen Leben gilt das Töten als schlimmstes Verbrechen – im Krieg jedoch wird es zur Alltagshandlung, ja zur Pflicht. Die moralischen Grundsätze verkehren sich ins Gegenteil: „Was im zivilen Leben als schlimmstes denkbares Verbrechen gilt, wird nun zur Alltagshandlung. Der Mensch wird vom vernünftigen und moralischen Wesen in ein Tötungswerkzeug verwandelt – und das vom Staat!“ (S. 39). Diese drastischen Worte führen dem Leser vor Augen, wie radikal Krieg humane Werte zerstört. Für Nymoen ist der Staat in diesem Zusammenhang kein edler Beschützer, sondern derjenige, der diese Entmenschlichung überhaupt erst orchestriert.
Im Buch zieht Nymoen historische und aktuelle Vergleiche heran, um zu untermauern, dass alle Staaten in Kriegszeiten ähnlich rücksichtslos agieren, seien es Demokratien oder Diktaturen. Er zitiert etwa die Philosophin Simone Weil, die schon während des Zweiten Weltkriegs feststellte, jeder Staat führe im Krieg gleichzeitig Krieg gegen den äußeren Feind und gegen die eigene Armee, da er seine eigenen Soldaten „in den Tod schickt“, um den Feind zu besiegen (S. 64). Diese bittere Wahrheit gelte unabhängig vom politischen System. Demokratie schützt die Menschen im Kriegsgeschehen kaum besser als Diktatur, weil im totalen Anspruch des Staates – das eigene Überleben über alles zu stellen – beide gleich handeln. Nymoen bringt es auf den Punkt: „In ihrem totalitären Anspruch – dass das Leben des Einzelnen weniger gilt als die politische Souveränität der Herrschenden – sind angreifende und verteidigende, demokratische und diktatorische Staaten sich völlig gleich.“ (S. 65). Diese Provokation – dass zwischen „guten“ Verteidigern und „bösen“ Angreifern moralisch kein Unterschied bestehe, solange beide über Leichen gehen – dürfte vielen nicht schmecken. Doch angesichts der aktuellen Nachrichten aus dem Nahen Osten erhält dieser Gedanke unheilvolle Bestätigung: Auch Israel, eine Demokratie, bombardiert, nachdem sie den Gaza-Streifen dem Erdboden gleich gemacht haben, iranische Städte; auch die USA nehmen zivile Opfer in Kauf, um einem ideologischen Feind zuvorzukommen. Und sollte Deutschland tatsächlich „Verantwortung übernehmen“ und Soldaten schicken, würden auch deutsche Demokraten Menschen in einem fernen Land töten (und sterben), weil der Staat es befiehlt. Wir haben die Lehre aus Afghanistan nicht begriffen, sollte man den deutschen Kriegspropagandist:innen zu rufen.
Universalismus statt Parteinahme: Nymoens radikale Antikriegshaltung
Ole Nymoen zieht aus seiner Analyse eine konsequente Schlussfolgerung: Wirklicher Pazifismus muss universalistisch sein. Anstatt reflexhaft Partei für die „eigene“ Seite zu ergreifen – sei es im Namen von Demokratie, Vaterland oder Bündnispflichten – solle man jeden Krieg als Tragödie für alle Beteiligten betrachten. Nymoen schreibt: „Eine tatsächlich universalistische Haltung bestünde darin anzuerkennen, dass angreifende wie verteidigende Soldaten ihren Staaten gleichermaßen hilflos ausgeliefert sind.“ (S. 65). Diese Aussage zielt direkt auf das gängige Narrativ vom gerechten Krieg ab. Solange wir zwischen vermeintlich guten und bösen Kriegen unterscheiden, machen wir uns laut Nymoen mitschuldig an der Fortsetzung des Blutvergießens. Wer wirklich gegen den Krieg ist, darf „jede einseitige Parteinahme für Staaten“ nicht mitmachen und muss stattdessen „die Unterteilung der Welt in konkurrierende Gewaltmonopolisten kritisieren“ (S. 65). Im Klartext: Anstatt im Falle eines neuen Nahostkriegs sofort die Fahnen für „unsere Seite“ zu schwenken, sollten wir infrage stellen, warum überhaupt Staaten gegeneinander kämpfen und Menschen verheizt werden.
Diese Haltung mag extrem klingen, doch sie ist der ethische Kern von Nymoens Buch. Er argumentiert, dass jeder Mensch – ob Israeli, Iraner, Amerikaner oder Deutscher – ein Recht auf Leben und Frieden hat, das über staatlichen Machtansprüchen stehen muss. Sobald wir anfangen abzuwägen, „wie viele Männer, Frauen, Alte und Kinder man für eine gerechte Sache töten darf“, haben wir geistig bereits kapituliert und uns dem Denken der Machthaber ausgeliefert (S. 68). Nymoen geißelt diese Frage als unmenschlich: Man müsse „gedanklich bereits völlig mit den Machthabern dieser Welt verschmolzen sein“, um sie überhaupt zu stellen (S. 68). Hier schimmert ein tief humanistischer, ja anarchischer Impuls durch: Lieber das eigene Leben riskieren, als zum Komplizen eines Mordens im Namen von Nation oder Ideologie zu werden. Nicht für den Staat kämpfen zu wollen – so Nymoen – ist in diesem Licht kein Verrat, sondern „ein Akt der Humanität und des Protests für kollektive Selbstbestimmung“ (S. 7).
Wie würden wohl die jungen Männer reagieren, die Merz nun in den Krieg schicken will, wenn sie Nymoens Thesen kennen? Der Autor selbst, Jahrgang 1995, stellt sich ja ausdrücklich auf die Seite derer, die im Ernstfall den Kopf hinhalten müssen, ob sie wollen oder nicht mehr (S. 117). Sein Plädoyer gegen die Kriegstüchtigkeit ist zugleich ein Plädoyer für mehr kollektive Selbstbestimmung: Kein Staat der Welt, so die Botschaft, darf uns zwingen, unsere Mitmenschen zu töten oder uns für Machtspiele opfern zu lassen. Diese radikale Absage an jede und jeden Krieg entspricht einem Pazifismus, der über nationales Denken hinausgeht – ein Pazifismus, der in Zeiten globaler Bündnisse und Feindbilder sehr unbequem ist. Marina Weisband, eine Kritikerin von Nymoen, warf ein, eine neutrale Haltung helfe am Ende nur dem Aggressor und sei ein Luxus derjenigen, die nicht um ihr Überleben fürchten müssen[9]. Dieser Einwand – was wäre gewesen, wenn niemand Hitler bekämpft hätte? – bleibt im Raum stehen. Nymoen liefert keine leichte Antwort, was in Fällen extremer Bedrohung geschehen soll. Doch sein Buch zwingt uns zumindest, diese Fragen ehrlich zu stellen, jenseits reflexhafter Kriegsrhetorik.
Kritik: Blinde Flecken in Nymoens Analyse
Bei aller inhaltlichen Klarheit und Schärfe bleibt Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde nicht frei von Kritikpunkten. Gerade Leserinnen und Leser mit linkem, kapitalismuskritischem Hintergrund – zu denen sich wohl viele Pazifisten in Deutschland zählen – werden an einigen Stellen ein unbefriedigendes Bauchgefühl verspüren. Nymoen vermeidet nämlich eine allzu deutliche Kapitalismuskritik. Zwar betont er immer wieder die Rolle von Rüstungsindustrien und Kriegsprofiteuren, doch er weist die marxistische These zurück, Kriege seien ausschließlich durch wirtschaftliche Interessen motiviert. So argumentiert er unter Verweis auf historische Analysen, der Erste Weltkrieg etwa sei „ganz sicherlich nicht vorrangig um Kapitalprofite“ geführt worden, sondern um Konkurrenz imperialistischer Staaten und Machtstatus (S. 51). Er hält fest, dass „einige Kapitalfraktionen“ zwar „in jedem Fall vom Krieg zehren“, während „ein Großteil der Wirtschaft unter ihm ächzt“ (S. 52). Mit solchen Passagen versucht Nymoen, eine rein ökonomische Erklärung von Kriegen als zu kurz gegriffen darzustellen. Damit distanziert er sich deutlich von Marx und Lenin, die in imperialistischen Rivalitäten und Kapitalexport zentrale Kriegsursachen sahen.
Dieser Ansatz hat jedoch zwei Seiten. Einerseits bewahrt Nymoen seine Argumentation so vor einfachen Verkürzungen – Kriege sind in der Tat komplex und nicht jeder Konflikt lässt sich monokausal mit Rohstoffen oder Absatzmärkten erklären. Andererseits fühlt es sich an, als unterbewertete er die „Kriegslust des Kapitals“, die historische Realität ist. Kritiker werfen ihm vor, dass gerade die Vorbereitung des Zweiten Weltkriegs gezeigt habe, wie willfährig große Teile der Industrie auf Kriegsgewinne hofften. Nymoens Distanzierung von marxistischen Analysen schwächt in den Augen dieser Kritiker seine eigene Argumentation. Es entsteht der Eindruck, er scheue davor zurück, das Wirtschaftssystem Kapitalismus als tiefere Ursache von Konkurrenz und Aufrüstung zu benennen. Das mit Abstand schwächste Kapitel des Buches, weil Nymoen die imperialismuskritischen Theorien Lenins als „populistisch“ oder „verschwörungstheoretisch“ abtut (S. 50). Hier verliert das Buch etwas von seiner Stringenz. Denn wenn Kriege nicht vor allem aus Gier nach Ressourcen und Profiten entstehen, warum dann? Nymoens Antwort lautet: aus Machtwillen der Staaten – doch bleiben diese Sphären in der Realität oft untrennbar verbunden. Eine klarere Kapitalismuskritik hätte seiner Streitschrift daher gutgetan, um die Schnittstellen von ökonomischer und staatlicher Gewalt noch deutlicher offenzulegen.
Ein weiterer Kritikpunkt betrifft Nymoens Staatsverständnis. Seine Generalkritik richtet sich zwar zu Recht gegen alle Staaten als gewaltförmige Herrschaftsgebilde, die ihre Bürger im Zweifel als „Menschenmaterial“ behandeln (S. 40/64). Allerdings bleibt diese Anklage sehr abstrakt. Nymoen betont mehrmals, der Staat spanne die Bürger für seine eigenen Zwecke ein und sei „kein nützlicher Diener des Volkes, sondern umgekehrt: Das Volk ist dem Staat und seinen Zielen ausgeliefert.“ (S. 61). Diese Zuspitzung ignoriert jedoch, dass es unterschiedliche Staatsformen gibt und somit unterschiedliche Möglichkeiten für die Bevölkerung, Einfluss zu nehmen. Demokratische Staaten bieten theoretisch Mechanismen, um Kriegspläne zu verhindern – sei es durch Wahlen, Parlamente oder öffentliche Debatten. Nymoen blendet die Potenziale demokratischer Gestaltung leider weitgehend aus. An einer Stelle paraphrasiert er Karl Marx: „Staatsbürger zu sein, ist kein Glück, sondern ein Pech!“ (S. 59). Auch wenn dieser Satz einen wahren Kern enthält (weil Staatseinheiten Menschen künstlich trennen und gegeneinander aufbringen können), so übersieht er doch, dass Bürgerinnen und Bürger in parlamentarischen Demokratien nicht bloß Untertanen ohne jede Macht sind. Die Kritik an der Staatsmacht bleibt bei Nymoen abstrakt – so monierte etwa die Neues Deutschland-Rezension des Buches – und dadurch fällt es ihm schwer, zwischen verschiedenen Arten von Konflikten und Regimen differenziert zu urteilen[10]. Anders ausgedrückt: Ein demokratischer Staat, der sich verteidigt, mag in Nymoens Augen moralisch genauso verwerflich handeln wie ein Aggressor; jedoch könnte man einwenden, dass in einer Demokratie die Bürger zumindest die Chance haben, Nein zum Krieg zu sagen. Diese Widersprüche arbeitet das Buch nur am Rande heraus. Praktische Alternativen zur staatlichen Militärlogik, wie z.B. Konzepte der zivilen oder sozialen Verteidigung, werden kaum diskutiert[11]. Hier bleibt Raum für weiterführende Debatten, die Nymoens Sachbuch zwar anstößt, aber nicht abschließend beantwortet.
Kriegstüchtigkeit versus Friedenswille – ein notwendiger Diskurs
Trotz einiger offener Flanken ist Ole Nymoens „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“ ohne Zweifel ein wichtigstes politisches Buch der Gegenwart. Es erschien in einer Zeit, in der die Öffentlichkeit von einem neuen Geist der Kriegstüchtigkeit erfasst zu wurden – sei es durch 100-Milliarden-Aufrüstungsprogramme, die Diskussion um eine Rückkehr zur Wehrpflicht oder ganz aktuell Politiker, die wie Friedrich Merz unverblümt militärisches Eingreifen befürworten. Nymoens Buch hält dagegen wie ein Warnsignal. Es ruft uns in Erinnerung, „was Krieg im Zweifelsfall anrichten würde“[12], und es entlarvt die verführerischen Parolen vom heldenhaften Kriegseinsatz als gefährliche Illusion. Indem der Autor präzise alle Argumente für Krieg und Nationalismus zerlegt[13], leistet er Aufklärungsarbeit im besten Sinne. Manche mögen ihm Naivität oder Radikalität vorwerfen – tatsächlich stellt er die unbequemen Fragen, die in einer aufgeheizten sicherheitspolitischen Debatte allzu leicht unter den Tisch fallen. Nymoen erhebt Einspruch gegen die vermeintliche Objektivität der neuen Kriegspolitik, die von vielen Medien und Think-Tanks als alternativlos präsentiert wird. Er bietet zwar keine einfachen Lösungen an – „Ich habe keine konstruktive, realistische Lösung im Angebot“, gibt er freimütig zu (S. 67) –, aber er hebt die Debatte um Krieg und Frieden auf ein neues öffentliches Niveau. Plötzlich wird wieder grundsätzlich überlegt: Müssen wir wirklich für den Staat sterben? Wem nützt es, wenn junge Menschen in den Krieg ziehen? Wieviel Freiheit opfern wir auf dem Altar der Sicherheit?
Diese Fragen sind im Jahr 2025 brennender denn je. Während in Teheran und Tel Aviv Raketen einschlagen und deutsche Politiker über „Verantwortung“ schwadronieren, setzt Ole Nymoen ein klares Zeichen für den Friedenswillen. Sein Buch liest sich wie ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, die Menschlichkeit nicht dem kalten Kalkül der Geostrategen zu opfern. Gewiss, „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“ ist kontrovers – es zwingt uns, Stellung zu beziehen. Doch gerade darin liegt seine Stärke. Es ist eine kritische Intervention gegen die geistige Mobilmachung der Bevölkerung im Zeichen der viel beschworenen Zeitenwende[14]. Nymoen erinnert uns daran, dass Frieden keine feige Gesinnung, sondern ein mutiger Akt der Vernunft ist. Angesichts der aktuellen Weltlage kann man diesem Weckruf nur dankbar sein. Denn er gibt all jenen eine Stimme, die bei den Kriegstrommeln nicht mitschunkeln, sondern laut fragen: Warum eigentlich? Und er ermutigt dazu, dem Ruf „zur Front“ notfalls mit einem entschiedenen „Nein“ zu begegnen – im Namen der Menschlichkeit. Damit liefert Ole Nymoen genau das, was wir jetzt brauchen: Denkanstöße abseits der rein militärischen Logik, die zunehmend den Ton angibt, und eine leidenschaftliche Verteidigung des Lebens über die Logik der Kriege. Dieses Buch ist wichtig, weil es uns lehrt, genauer hinzuschauen, wem der Krieg wirklich nützt, wer ihn bezahlt – und was wir bereit sein sollten zu opfern, nämlich möglichst nichts weniger als unsere eigene Menschlichkeit.
„Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“ bietet einen pointierten, tief moralischen Gegenentwurf zum neuen Kriegsdiskurs. Es hält dem Konzept der Kriegstüchtigkeit den Spiegel vor und stärkt den Friedenswillen. In einer Zeit, da die Hemmschwelle zum Militäreinsatz sinkt, stellt Nymoens Schrift die richtigen Fragen – und genau das macht dieses Buch so bedeutend[15].
[1] https://www.dw.com/de/usa-bombardieren-irans-atomanlagen-fordo-natans-isfahan-krieg-trumps-angriff-bunkerbrechende-bomben/a-72997414
[2] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/usa-angriff-iran-atomanlagen-100.html
[3] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/usa-angriff-iran-atomanlagen-100.html
[4] https://www.dw.com/de/usa-bombardieren-irans-atomanlagen-fordo-natans-isfahan-krieg-trumps-angriff-bunkerbrechende-bomben/a-72997414
[5] https://www.zdfheute.de/politik/g7-gipfel-merz-100.html
[6] https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/aussenpolitik/id_100782176/merz-ueber-israel-iran-krieg-drecksarbeit-so-redet-sonst-nur-trump.html
[7] https://www.zdfheute.de/politik/g7-gipfel-merz-100.html
[8] https://www.bild.de/politik/meinung-kommentare-kolumnen/kommentar-merz-drecksarbeit-satz-ist-historisch-685317655cc1ca15643e160d
[9] https://www.br.de/nachrichten/kultur/autor-ole-nymoen-ein-buch-gegen-die-zeitenwende,Uftuc9P
[10] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190659.kriegstuechtigkeit-influencer-der-kriegsmueden.html
[11] ebenda
[12] https://www.deutschlandfunkkultur.de/buchkritik-ole-nymoen-warum-ich-niemals-fuer-mein-land-kaempfen-wuerde-100.html
[13] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/ole-nymoen-wehrpflicht-niemals-kaempfen-li.2306645
[14] https://www.nd-aktuell.de/artikel/1190659.kriegstuechtigkeit-influencer-der-kriegsmueden.html
[15] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/geopolitik/ole-nymoen-wehrpflicht-niemals-kaempfen-li.2306645
Wie passend dazu, veröffentlichte der Kabarettist Christoph Sieber heute (30.06.2025) folgendes Video auf Instagram:
https://www.instagram.com/reel/DLhCmPYsDKA/?igsh=bTVlcjMwcHN4OXpo
Literaturverzeichnis
Nymoen, O. (2025). Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde: Gegen die Kriegstüchtigkeit. Rowohlt Verlag.
Bardorf, Felix. Influencer der Kriegsmüden Neues Deutschland, 17. April 2025, (letzter Aufruf: 29.06.2025)
Deutsche Welle. (2025a, 22. Juni). USA bombardieren Irans Atomanlagen. https://www.dw.com/de/usa-bombardieren-irans-atomanlagen-fordo-natans-isfahan-krieg-trumps-angriff-bunkerbrechende-bomben/a-72997414 (letzter Aufruf: 29.06.2025)
Deutsche Welle. (2025b, 22. Juni). Iran kündigt Vergeltung an. https://www.dw.com/de/iran-vergeltung-angekündigt (letzter Aufruf: 29.06.2025)
Hühn, Constantin: Buchkritik – Ole Nymoen: „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“. Deutschlandfunk, 7. April 2025, abgerufen am 18. April 2025. (letzter Aufruf: 29.06.2025)
Meyen, Ferdinand, BR. Autor Ole Nymoen: Ein Buch gegen die Zeitenwende. 20. März 2025, abgerufen am 18. April 2025. (letzter Aufruf: 29.06.2025)
Piatov, Filipp, Bild. (2025, 15. April). Warum Deutschland jetzt lernen muss, die Drecksarbeit selbst zu machen. https://www.bild.de/politik/meinung-kommentare-kolumnen/kommentar-merz-drecksarbeit-satz-ist-historisch-685317655cc1ca15643e160d (letzter Aufruf: 29.06.2025)
Schmeller, Raphael: Ole Nymoen rechnet mit Wehrpflicht ab: „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“. Berliner Zeitung, 13. März 2025, abgerufen am 18. April 2025. (letzter Aufruf: 29.06.2025)
Simon, Paul: Alles Jacke wie Hose. Abgerufen am 22. April 2025. (letzter Aufruf: 29.06.2025)
Tagesschau. (2025a, 22. Juni). Trump verkündet Zerstörung iranischer Atomanlagen. https://www.tagesschau.de/ausland/asien/usa-angriff-iran-atomanlagen-100.html
Bollmeier, Malte. t-online.de. (2025, 22. Juni). Merz über Israel-Iran-Krieg. https://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/aussenpolitik/id_100782176 (letzter Aufruf: 29.06.2025)
ZDF. (2025a, 21. Juni). Merz: Israel macht in Iran „Drecksarbeit für uns alle“. https://www.zdfheute.de/politik/g7-gipfel-merz-100.html (letzter Aufruf: 29.06.2025)
Luxemburg, R. (2018). Die Akkumulation des Kapitals (Original erschienen 1913). Dietz Verlag.
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