
Es sind die erschütternden Bilder aus Bergamo, Italien. Militärtransporter mit Särgen auf dem Weg in Krematorien der Umgebung. Die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz in der Lombardei ist über ihre Belastungsgrenze gekommen. Das Coronavirus hat die Region in die Knie gezwungen. Zu viele Menschen sterben täglich an den Folgen der Infektion. Mittlerweile zeichnet sich das Drama von Bergamo in ganz Europa ab. Bis zum 29. März 2020 wurden in der EU und im Vereinigten Königreich 331.122 Infektionsfälle laut Europäischer Union gezählt. (https://www.ecdc.europa.eu/en/cases-2019-ncov-eueea) Weltweit sind seit dem 31. Dezember 2019 bis heute 657.140 Fälle von COVID-19 gemeldet worden, darunter 30.451 Todesfälle. (https://www.ecdc.europa.eu/en/geographical-distribution-2019-ncov-cases)
Den Experten glaubend, ist der Pik der Pandemie noch in weiter Ferne. Es fehlt an wirksamen Therapien, um der Krankheit Herr zu werden. Es fehlt an Impfstoffen, um die weitere flächendeckende Ausbreitung einzudämmen, zu kontrollieren. Doch viel entscheidender ist: Es fehlt ein weltweites Gesundheitssystem, welches in der Lage ist, auf diese und kommende Pandemien zu reagieren.
Covid-19 die Pest des 20. Jahrhunderts
Was wir allein in den hochentwickelten westlichen Industriestaaten erleben, grenzt an mittelalterlicher Hilflosigkeit vor der Pest. Der Westen verzeichnet insgesamt die meisten Infektionen und die meisten Todesfälle. Hochleistungsmedizin gegen Covid-19. Ein ungleicher Kampf. Denn was steckt hinter dieser Hochleistungsmedizin?
Betrachten wir allein Deutschland. Noch scheinen uns die Maßnahmen von Bund und Ländern vor den extremen Auswüchsen der Pandemie zu bewahren. Laut Robert-Koch-Institut sind 52.547 erkrankt und 389 Menschenleben sind auch hier zu beklagen. Durch alle Altersschichten. Mit und ohne Vorerkrankungen. Derzeit bemühen sich über 5 Millionen Beschäftigte im Gesundheitssektor um jedes Menschenleben. Darin sind alle eingeschlossen, die in Handel, Verwaltung, Pharmazie, Medizintechnik, ambulanten oder stationären Bereichen des Gesundheitswesens tätig sind. Sie alle leisten momentan unvorstellbares. Und das in Zeiten, – und dies sei an dieser Stelle eingefügt – wo immer noch junge Leute allen Warnungen und Anordnungen zum Trotz in Grüppchen provokativ durch die Straßen ziehen.
Doch sie scheinen schier machtlos gegenüber der rasanten Ausbreitung des Virus zu sein. Gewiss, es gibt bereits über 8 Tausend Menschen, die als geheilt gelten. Und doch ähneln alle Maßnahmen, die getroffen werden, eher einer Suche nach dem Stein der Weisen. Hinzukommt, dass die ca. 28 Tausend Intensivbetten, die zu 50 Prozent bereits durch andere Patienten langfristig belegt sind, bei einem Szenario wie in Italien und in Spanien nicht ausreichen werden. Man könne nach Aussagen des Ärzteblattes pro Tag damit ungefähr 2 Tausend Neuaufnahmen mit Covid-19 realisieren. (https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/111029/Ueberlastung-deutscher-Krankenhaeuser-durch-COVID-19-laut-Experten-unwahrscheinlich). Und letztlich fehlt es an Intensivpersonal in den fast 2.000 Krankenhäusern. Denn auch hier wurde und wird gespart. Keine leistungsrechte Bezahlung. Keine Vergütung von Überstunden, die aufgrund von Personalmangel geleistet werden müssen. Fehlende gesundheitliche Vorsorge durch Angebote des Betrieblichen Gesundheitsmanagements. Keine Anreize selbst in Zeiten des Fachkräftemangels. Nina Magdalena Böhmer schildert in der gestrigen Ausgabe des Tagesspiegel (28.03.2020) den Joballtag einer Krankenpflegerin in Berlin: „Gerade habe ich in einer Studie des DIW gelesen, dass der Bruttostundenlohn in systemrelevanten Berufen wie meinem um 15 bis 20 Prozent niedriger liegt als in nicht systemrelevanten Berufen. Wir wollen auch mal reisen, uns etwas ansparen.“ Und dann bemerkt sie noch kämpferisch: „Wenn ihr uns helfen wollt, dann klatscht nicht, singt nicht, unterschreibt lieber eine Online-Petitionen und wählt Parteien, die sich für uns einsetzen. Ich verrate nur so viel: Jens Spahn ist es nicht. Und wenn das alles vorbei ist, freu ich mich, wenn ihr für uns auf die Straße geht.“ (https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/berliner-krankenpflegerin-klagt-an-euren-applaus-koennt-ihr-euch-sonstwohin-stecken/25691690.html)
Ein vorhersehbare Pandemie
Alles Zahlenspielereien? Emotionale Manipulation? Nein, das Netzwerk gesundheitsstadt-berlin.de veröffentlichte schon am 21. September 2019 einen Bericht der Weltgesundheitsorganisation, worin vor einer weltweiten Pandemie mit 80 Millionen Toten gewarnt wurde. Doch die Regierungen dieser Welt wären schon damals auf ein solches Scenario nicht vorbereitet gewesen, stellten die Verfasser des Berichts vom Global Preparedness Monitoring Board (GPMB), ernüchtert fest. „Es ist höchste Zeit endlich zu handeln“, sagt GPMB-CEO Gro Harlem Brundtland. (https://www.gesundheitsstadt-berlin.de/who-warnt-vor-pandemie-mit-80-millionen-toten-13652/) Microsoft-Gründer Bill Gates hatte bereits 2010 zehn Jahren vor dem Ausbruch einer globalen Pandemie gewarnt. Er forderte schon damals die Regierungen der Welt auf, umfassende Vorbereitungen dafür zu treffen. Vor dem Hintergrund der Schweinegrippe, die rund 18.000 Todesfälle zu verzeichnen hatte, wurden diese Warnungen, die der Genetiker Dan Wattendorf, von Gates-Stiftung 2017 mit den Worten äußerte, , dass damals „Millionen Menschen gestorben“ wären, wenn das Schweinegrippe-Virus die Ansteckungsgefahr und Tödlichkeit des H1N1-Erregers der Spanischen Grippe von 1918 gehabt hätte. (https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/bill-gates-warnt-vor-neuer-pandemie-a-1135609.html)
Und trotz dieses Fingerzeigs auf die Verläufe vorhergehender Pandemien wurde das Gesundheitssystem in den modernen kapitalistischen „Entwicklungsländern“ einem drastischen Effektivitäts- und Gewinnwahn unterzogen. Die Bertelsmann Stiftung kommt in einer Studie 2019 (wohlgemerkt, das Jahr, in dem die WHO vor einer weltweiten Pandemie warnte) zu der Aussage: „In Deutschland gibt es zu viele Krankenhäuser. Eine starke Verringerung der Klinikanzahl von aktuell knapp 1.400 auf deutlich unter 600 Häuser, würde die Qualität der Versorgung für Patienten verbessern und bestehende Engpässe bei Ärzten und Pflegepersonal mildern.“ (Quelle: https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2019/juli/eine-bessere-versorgung-ist-nur-mit-halb-so-vielen-kliniken-moeglich). Welch absurde Analyse des deutschen Gesundheitssystems. Und in anderen Ländern der westlichen Welt sieht es nicht anders aus. Die aktuelle Situation um Covid-19 zeigt genau das Gegenteil dieser wagen Prognosen wirtschaftsnaher Institute wie der Bertelsmann Stiftung. Wir sind schon mit den gegenwärtigen Kapazitäten auf diese und wahrscheinlich auch auf künftige Pandemien nicht vorbereitet. Ein Gesundheitssystem, das die Unterversorgung an medizinischen Leistungen zu Gunsten des Profits in Kauf nimmt, muss sich jetzt sein Scheitern nicht mehr eingestehen, sondern dabei zusehen, wie es Menschenleben nicht mehr retten kann.
Ob in Großbritannien, wo man alle privaten medizinischen Einrichtungen dem kaputt gesparten staatlichen Gesundheitssystem NHS unterstellt oder in Deutschland, wo es die Coronaviruskrise braucht, dass sich Universitätsklinika vernetzen. Überall wird man erkennen, dass sich die Gesundheit von Menschen nicht marktwirtschaftlich regeln lässt. Allein der Mangel an Schutzkleidung, den man gewohnt war, just in time beim nächsten Billiganbieter in Fernost zu ordern, setzt nicht nur dem Gesundheitssystem die Grenzen, sondern bringt zusätzlich Menschen in Lebensgefahr. Medizinisches Personal wird darauf vorbereitet, beispielsweise medizinischen Mund-Nasen-Schutz länger als die empfohlene Tragezeit von 2 Stunden zu gebrauchen. Dagegen heißt es in einem Hygiene-Tipp der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene: „Da der Mund-Nasen-Schutz mit der Dauer der Tragezeit durchfeuchtet, soll der Mund-Nasen-Schutz nach spätestens 2 Std. erneuert werden.“ (https://www.krankenhaushygiene.de/informationen/hygiene-tipp/hygienetipp2011/362) Und der Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, betont passend zum Thema in der heutigen Ausgabe „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“, dass das deutsche Gesundheitssystem an seine Grenzen geraten werde: „Wir müssen damit rechnen, dass die Kapazitäten nicht ausreichen, ganz klar“. (https://www.msn.com/de-de/nachrichten/coronavirus/wieler-warnt-vor-dramatischen-zust%C3%A4nden-in-deutschen-kliniken-wegen-corona-krise/ar-BB11RiX1?OCID=ansmsnnews11)
Es fehlt also an allem im deutschen und in weltweiten Gesundheitssystemen, um auf die gegenwärtige und an die Tür klopfenden künftigen Pandemien zu reagieren. Solange es gut ging, mit der Gesundheit viel Geld zu verdienen, wurde aus dem Gesundheitssystem alles herausgeholt, was man bekommen konnte. Und auch jetzt stehen die Medizinfirmen wieder mit offenen Händen da, um sich Gelder vom Staat für die Überlastung ihrer Unternehmen einzufordern.
Mein erstes Fazit
Ein erstes Fazit kann ich für mich aus dieser Situation schon jetzt ziehen: Menschen mit Empathie gehen momentan an ihre Grenzen, um alles zu tun, die Pandemie einzudämmen und Menschenleben zu retten. Menschen mit Profitabsichten, werden aus der Krise wieder ihr Heil suchen und danach nichts ändern, wenn wir es nicht ändern. Das bisherige System der Fallpauschalen ist „in vielerlei Hinsicht gescheitert“ und führte zum „Regime der Knappheit“ sagt der Medizinethiker Giovanni Maio in einem Interview im Deutschlandfunk (Quelle: https://www.deutschlandfunk.de/krankenhaeuser-in-der-coronakrise-system-der-fallpauschale.694.de.html?dram:article_id=474949).
„Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst“, Mahatma Gandhi. Das sollte uns alle für die Zeit nach Corona prägen, wenn wir Verhältnisse im Gesundheitswesen im Interesse unserer eigenen Gesundheit neugestalten wollen und Bilder wie aus Bergamo nicht mehr unseren Alltag weltweit bestimmen.